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Westliches Scheitern und Hoffnung in Afghanistan – Politikmagazin über Lage am Hindukusch

21:46 - October 12, 2021
Nachrichten-ID: 3004898
Deutsche und afghanische Perspektiven auf die Situation am Hindukusch bietet die aktuelle Ausgabe des Potsdamer Politikmagazins "WeltTrends". Darin werden die falschen Vorstellungen westlicher Politik ebenso analysiert wie die Ursachen für ihr Scheitern. Zugleich wird gewarnt, das Land nun zu vergessen.

von Tilo Gräser

Der 20 Jahre dauernde Krieg des Westens in Afghanistan, einschließlich des überstürzten Abzugs im Sommer 2021, war "ein in jeder Hinsicht völliges Desaster für die USA, ihre Verbündeten, darunter auch Deutschland, vor allem jedoch für die Islamische Republik Afghanistan." Das schreibt der Friedens- und Konfliktforscher Hans-Joachim Gießmann in der aktuellen Ausgabe des Politikmagazins WeltTrends (Nr. 180/Oktober 2021). Das Heft ist dem Themenschwerpunkt "Afghanistan am Scheideweg" gewidmet und gibt deutsche sowie afghanische Perspektiven wieder.

Auch der Chefredakteur des außenpolitischen Monatsmagazins aus Potsdam, Raimund Krämer, bezeichnet im Editorial die Bilanz des westlichen Einsatzes am Hindukusch als "verheerend": "Nicht nur in Afghanistan, sondern im gesamten Nahen und Mittleren Osten, wo der zwanzigjährige 'Krieg gegen den Terror' nach Angaben der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW bis Oktober 2019 zu 800.000 Kriegstoten und zu über 35 Mil­lionen Flüchtlingen führte." Andere Quellen würden die Zahl der Toten höher ansetzen.

"Nach der chaotischen Flucht aus Kabul vor vier Wochen meint man in Washington und auch hierzulande, diesen Taliban Verhaltensregeln und die Zusammensetzung der Regierung vorschreiben zu können", schreibt Krämer, und fügt hinzu: "Regeln, zu denen man schweigt, wenn es zum Beispiel um die Regierungsbildung in Saudi-Arabien geht." In der medialen Berichterstattung zeige sich, dass das Kapitel Afghanistan schnell abgeschlossen und der Blick "nach vorn" gerichtet werden solle.

Anlass zum Nachdenken

Dem Wegschauen und der Ignoranz gegenüber dem, was nun in dem Land am Hindukusch geschieht, will die WeltTrends-Redaktion mit dem Heft etwas entgegensetzen. Dem Thema waren seit Bestehen des Magazins mehrere Ausgaben gewidmet: "Den Krieg um Afghanistan hat der Westen verloren, wieder einmal", hieß es bereits im Editorial von Heft 75 (November/Dezember 2010). Und in Heft 94 (Januar/Februar 2014) wurde festgestellt:

"Die Beendigung dieses Krieges sollte für Militär und Politik hierzulande nicht nur als ein logistisches Problem verstanden werden, sondern Anlass sein, über Kriege im 21. Jahrhundert und die Rolle Deutschlands ernsthafter nachzudenken."

Nun haben die Taliban die Macht in Afghanistan zurückerobert und bestimmen wieder die Geschicke des Landes. International haben sich anscheinend alle bisherigen Akteure damit abgefunden und richten sich auf die neue Situation ein. Zugleich wird mit Horrorszenarien über die neue Taliban-Herrschaft versucht, von den eigenen Fehlern und Taten abzulenken.

"Eklatante Fehleinschätzungen"

Gießmann macht mit Blick auf die bundesdeutsche Politik in Afghanistan auf drei langjährige "eklatante Fehleinschätzungen" aufmerksam: "Erstens, Afghanistan sei dabei, die 'volle Ausübung seiner Souverä­nität' zu erlangen. Zweitens, der Wiederaufbau des afghanischen Staates sei 'erfolgreich' gewesen. Drittens, das internationale Engagement werde nicht plötzlich enden." Das sei durch die Realität und die jüngsten Ereignisse widerlegt worden.

"Die afghanischen Regierungen seit 2002 waren in sicherheitspolitischer und auch in finanzieller Hinsicht zu keinem Zeitpunkt souverän", so der Friedensforscher. Die Wirtschaft des Landes wie auch die Gesellschaft Afghanistans seien bis zu 90 Prozent von ausländischen Finanzmitteln abhängig gewesen. Diese seien in den letzten Jahren auch noch reduziert worden, was über die Korruption im Inneren hinaus verheerende Folgen habe.

Davon betroffen sei auch die Armee und die innere Sicherheit:

"Das Konzept der 'Ertüchtigung' durch Ausrüstung, Training und Ausbildung erweist sich rückblickend als gescheitert."

Den afghanischen Soldaten habe es nicht nur an Moral gefehlt, weil oftmals der Sold ausblieb. Es habe ebenso an Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Fürsorglichkeit der Regierung gefehlt.

"Hinzu kam die Dominanz der internatio­nalen Militärpräsenz in allen Teilen des Landes. Wirklich befreien konnte Afghanistan sich aus der Abhängigkeit in 20 Jahren nicht." Zu den "wenigen messbaren und im Westen hochgejubelten Fortschritten" gehörte die Bildung für Mädchen und Frauen. Doch diese Fortschritte können aus Sicht von Gießmann nicht verdecken, dass die Realität nach 20 Jahren internationalen Engagements in Afghanistan "nieder­schmetternd" sei.

Kein abgeschlossenes Kapitel

Der Friedensforscher zählt auf, dass das Land in zahlreichen internationalen Ranglisten weit hinten zu finden ist, so bei dem Korruptionsindex, dem UN-Index Menschlicher Entwicklung oder dem Global Peace Index. Selbst die Alphabetisierungsrate gehöre mit 28 Prozent zu den niedrigsten, und liege bei Frauen und Mädchen bei gerade einmal 17 Prozent. "Die riesigen Zuwendungen konnten das Scheitern der Mission nicht verhindern, was auch mit der ungleichen Verteilung der Mittel zu erklären ist."

Den Löwenanteil habe der militärische Sektor verbucht – "zum größten Teil für eigene Stationie­rungskosten" der internationalen Truppen. So seien die entsprechenden Militärausgaben westlicher Staaten mehrfach höher gewesen als die Ausgaben für zivile Projekte. "Im Ergebnis ist keines der Ziele der Unterstützung erreicht."

Gießmann warnt davor, hierzulande Afghanistan nur als "abgeschlossenes Kapitel" zu sehen, als "misslungene Investition".

"Die Machtübernahme der Taliban ist jedoch nicht das Ende der Geschichte Afghanistans – höchs­tens das Ende der Träume à la Francis Fukuyama von Demo­kratie als Ende der Geschichte."

Für das Land am Hindukusch handele es sich nur um eine weitere historische Zäsur, während Afghanistan sich weiter "in sozialer, kultureller, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht der modernen Vor­stellung einander ähnelnder Staatswesen entzieht."

Es werde sich nur dann aus der Gewaltspirale befreien können, wenn die Menschen dort "miteinander und nicht gegeneinander leben wollen", so der Friedensforscher. Die Versuche dafür müssten unterstützt werden, fordert er. Ob das geschieht, wird sich zeigen. Der Weg zur Rückkehr der Taliban an die Macht lässt zumindest große Zweifel zurück, was das Vorgehen der sogenannten internationale Gemeinschaft und insbesondere des Westens während der vergangenen 20 Jahre angeht.

Westliche Ignoranz

Allen voran die westliche Führungsmacht USA: Sie hatte bei ihren Verhandlungen mit den Taliban 2019 in Doha der afghanischen Regierung "keinerlei Mitspracherechte" eingeräumt, erinnert Gießmann in seinem Beitrag. "Sie wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Ihre Warnungen, den Taliban ein praktisch bedingungsloses Datum für den Abzug in Aussicht zu stellen, wurden nicht gehört."

Moh. Sayed Madadi beschreibt in dem aktuellen WeltTrends-Heft die Folgen des westlichen Handelns. Er war eigenen Angaben zufolge zuletzt Direktor für Internationale Beziehungen und Berater des Verhandlungsteams der Islamischen Republik Afghanistan in Doha. Er schreibt: "Die USA ignorierten die offensichtliche Notwendigkeit eines sinnvollen internationalen Über­einkommens und der Zusammenarbeit mit der afghanischen Regie­rung, um stattdessen einen schnellen Abzug der eigenen Truppen zu erreichen."

Über die Art und Weise, wie der angestrebte Frieden erreicht wer­den sollte, sei kaum diskutiert worden. Dagegen hätten die verschiedenen internationalen Akteure vor allem ihre Einzelinteressen verfolgt. Dazu habe beigetragen, dass dem von den USA geleiteten internationalen Engagement eine umfassende strategische Vision gefehlt habe, stellt Madadi fest.

"Die einzigen Akteure in diesem Prozess, die eine langfristige und umfassende Strategie verfolgten, waren die Taliban und ihre regionalen Förderer, die Kurzsichtigkeit und Mangel an Koor­dination anderer zu ihren Gunsten ausnutzten. Dies wurde durch die Unfähigkeit der USA und aller anderen externen Akteure, untereinander zusammenzuarbeiten, noch verstärkt."

Während der Einfluss der Taliban gewachsen sei, habe der Einfluss- und Wirkungsbereich der USA abgenommen, erinnert der afghanische Regierungsberater. Dadurch seien "auch die Differenzen zwischen den regi­onalen Akteuren immer deutlicher" geworden, wozu er neben Pakistan und Indien auch China und Russland zählt. Das habe alle Bemühungen um konstruktive Verhandlungen erschwert.

Egoistische Akteure

Die innerafghanischen Kontakte seien durch die jahrzehntelangen komplexen Konflikte belastet worden. Und: "Der von den USA mit den Taliban ausgehandelte Zeit­plan für den Rückzug machte die intra-afghanischen Gespräche abhän­gig von einem Abkommen, an dessen Zustandekommen die Regierung nicht beteiligt war." Ihre Möglichkeiten, den Prozess in späteren Phasen zu beeinflussen, waren laut Madadi nur minimal.

Aus seiner Sicht haben "Kurzsichtigkeit gepaart mit mangelndem Zusammenhalt – sowie die Verfolgung eigener politischer Interessen durch die internationalen Ver­bündeten Afghanistans – maßgeblich zur derzeitigen Misere beige­tragen". Aktuell gehe es vor allem darum, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Der Diplomat befürchtet: "Angesichts von schwindendem Interesse und Bereitschaft, sich weiterhin für Afghanistan zu engagieren, kann das Land kaum auf ein starkes Engagement hoffen."

Die Menschen in Afghanistan würden jedoch erwarten, "dass ihre Partner ihren Teil zur weitergehen­den Unterstützung beitragen."

"Die internationale Gemeinschaft sollte sich im Klaren darüber sein, dass die Instabilität in Afghanistan nicht ausschließlich durch einheimische Faktoren verursacht wird und dass sie Mitverantwortung für eine friedliche und stabile Entwicklung des Lan­des trägt."

Eine etwas andere Sicht auf die Dinge vertritt Fatima Gailani in dem WeltTrends-Heft, die zu einer Reihe weiterer afghanischer Stimmen gehört, die dort zu Wort kommen. "Wir AfghanInnen sind leider gut darin, Schuld und Verantwortung immer bei anderen zu suchen, und unser Schicksal aber zugleich nicht selbst in die Hand zu nehmen." Die Verhandlungen in Doha seien als Chance dafür nicht genutzt worden, bedauert sie.

Afghanische Sichtweisen

Die ehemalige Präsidentin des afghanischen Roten Halbmonds bezeichnet sich als "notorische Optimistin". Sie befürchtet aber: "Afghanistan wird also weiter leiden, bevor wir – vielleicht – erneut die Chance bekommen, zueinander­zufinden." Sie setze darauf, "dass Vernunft Einzug hält, dass verstanden wird, dass der Krieg Opfer auf allen Seiten verlangt, auch auf Seiten der Taliban verlangt hat".

Ihren Landsleuten rät Gailani: "Wir dürfen nicht nur auf unsere internationalen Partner hören. Wir müssen ihnen auch klar sagen, was wir wollen und benötigen – und was nicht. Wir brau­chen keine Lektionen, wir achten Rat und benötigen Hilfe, nicht aber Leute, die uns sagen, was wir zu tun hätten, um die Rechte der Frauen in Afghanistan zu wahren."

Weitere afghanische Sichtweisen steuern in dem Magazin der Parlamentarier Ghulam Farooq Majrooh sowie der ehemalige Gouverneur der Provinz Nangarhar, Azizullah "Hajji" Din Mohammad, bei. Der Politikwissenschaftler Hubert Thielicke beschreibt zudem, wie die zentralasiatischen Staaten – vor allem Usbekistan – sich seit Jahren für eine politische Lösung der Konflikte im Nachbarland Afghanistan einsetzen.

Lehren aus dem Scheitern

Lars Wagner von der Deutschen Hochschule der Polizei zieht in der aktuellen WeltTrends-Ausgabe Lehren aus der internationalen Polizeimission in Afghanistan. Die beiden Politikwissenschaftler Theresa Breitmaier und Basir Feda zeigen in ihrem Beitrag, dass das Land am Hindukusch "noch lange nicht verloren" ist.

Ebenfalls "Lehren aus einer gescheiterten Mission" zieht der Grünen-Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei. Er hat den internationalen sowie insbesondere den deutschen Afghanistan-Einsatz seit 2001 intensiv begleitet. Kurze Beiträge mehrerer sach- und fachkundiger Autoren im "Forum Afghanistan" schließen den Themenschwerpunkt ab. "Noch ist das volle Ausmaß dessen, was die Niederlage der NATO in Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban bedeuten, nicht sichtbar", stellt dabei die Politikwissenschaftlerin Petra Erler fest. Sie fragt:

"Ist das der Anfang vom Ende des US-Imperiums und der von ihm dominierten NATO, die nach dem Ende Kalten Krieges in Ausland­seinsätzen einen neuen Daseinszweck erfand?"

 

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